Eigentlich wollte ich, wie fast jeden Tag an dem ich daheim bin, ab halb drei fernsehen, mir dazu einen Kaffee machen und stricken. Ich kannte viele Serien bereits von früher, doch neben den Tätigkeiten wie z. B. auch Wohnung aufräumen ist es mir angenehm, wenn sich vertraute Stimmen und Bilder am Schirm tummeln. So drehte ich wie automatisch ORF 2 auf und wunderte mich - in der Küche stehend - dass ich fremde Geräusche vernahm. Hatte ich versehentlich ein anderes Programm gewähtl? Ich ging hinaus ins Wohnzimmer um das zu eruieren. Da sah ich ein Hochhaus brennen, dachte im Unterbewusstsein, naja kurze Programmänderung wegen einer vermutlich aktuellen Situation. Neben dem Kaffee zubereiten fiel mir kurz der Fernsehfilm „Hochhaus in Flammen“ ein und dass die Menschen in dem Wolkenkratzer jetzt wohl Angst hatten. Aber es würden sicher binnen weniger Augenblicke Alle von der Feuerwehr in Sicherheit gebracht werden. Dann vernahm ich die Worte „World Trade Center“, das kam mir irgendwie bekannt vor, wo war das nochmal? Aja in New York, die Moderatorin Hannelore Veith sagte es soeben. Was meinte der zweite Moderator Eugen Freund da, man wisse nicht ob das ein Terroranschlag sei? Ich setzte mich in den Schaukelstuhl, der es mir ermöglichte, immer nah am Fernhsehgerät zu sitzen und auf diese Weise gut sehen zu können. Plötzlich sah ich rechts im Bild ein Flugzeug. Ab diesem Moment spielten sich Bruchteile von Sekunden wie in Zeitlupe vor mir ab; „Hey, der fliegt viel zu tief, warum wendet er nicht, das geht sich nie aus…“ Ein riesiger Feuerball explodierte im zweiten Turm.
Ich schlug die Hände vors Gesicht, die Moderatoren schwiegen, offenbar ebenfalls vor Schreck. Nun war es klar, es war eindeutig ein Angriff auf das World Trade Center von New York, zumal jetzt gemeldet wurde, dass in den ersten Turm ebenfalls ein Flugzeug raste. Das war kein Versehen, das war volle Absicht.
Hannelore Veith fiel das Sprechen schwer, Eugen Freund kämpfte mit der Fassung. Wie sollte man auch live so etwas Erschreckendes kommentieren? Da sah ich Menschen an den Fenstern eines Turms, sie schrieen um Hilfe, kurze Zeit später stürzten sich einige in die Tiefe. Unten auf der Straße sah man Einsatzkräfte, die man in so kurzer Zeit mobilisieren konnte, Leute rannten umher, Hektik, Panik. Auf einmal stürzte ein Turm ein, eine riesige Staubwolke breitete sich aus. Ich saß nur da und war nicht fähig, irgendwas zu denken. Ins Pentagon war auch ein Flugzeug gestürzt, dort brannte es ebenfalls, was war denn da bloß los? Angst überkam nicht nur mich, auch die Moderatoren waren irritiert und verunsichert. Was würde noch kommen? Wenige Minuten später stürzte auch der zweite Turm ein und nun war es um meine Fassung geschehen, ich weinte, wie mir auch jetzt die Tränen aufsteigen, wenn ich an die Bilder denke. Nicht dass ich die beiden Türme bisher so gut gekannt hatte oder gar einmal dort gewesen war, aber die vielen Tausend Menschen, die das erleben und erleiden mussten? All diese Terroranschläge waren bis ins Detail geplant, die Flugzeuge wurden nach intensiver Vorbereitungszeit entführt und gezielt durch Selbstmordkommandos in die Türme und das Pentagon gelenkt. In mir überschlugen sich die Gedanken.
Einer geht wie jeden Morgen ins Büro und verabschiedet sich vielleicht mit einem Kuss vom Partner.
Der andere kocht daheim,
freut sich auf einen Abend in trauter Zweisamkeit und man telefoniert noch miteinander.
Ich versuche mir das vorzustellen: Ich sitze nichtsahnend im Büro, höre
plötzlich einen Knall und sehe Feuer oder Rauch, je nachdem in welchem Stockwerk
und bei welchen Fenster mein Arbeitsbereich liegt. Die im zweiten Turm haben
womöglich gesehen, dass im Zwillingsturm ein Feuerball explodierte. Panik
erfasst alle, nichts wie raus hier ist der erste Gedanke. Doch wohin rennen, arbeitet
man oberhalb frage ich mich? Bleibt eh nur hinauf, denn hinunter geht’s nicht
mehr. Da kommt dann sicher ein Hubschrauber und rettet uns, denke ich mir als
Laie. Und unterhalb bleibt einzig der Weg durchs Stiegenhaus, denn Aufzüge darf
man nicht mehr benutzen. Sind die überhaupt bei Feuer in Betrieb oder werden
sie automatisch gestoppt? Jeder will so schnell als möglich hinunter und ins Freie,
Gedränge vorm Treppenhaus, ich hätte totale Angst zu stolpern, dadurch zu Boden
zu stürzen und die Massen trampeln mich in Panik zu Tode. Plötzlich Stromausfall,
totale Dunkelheit, Rauch erfüllt das Stiegenhaus, ich verliere, wohl wie viele andere
auch, die Orientierung und taste mich an der Wand entlang. Doch da werde ich
womöglich erst recht von panischen Menschen vorangeschoben, zerdrückt… Vielleicht
haben es manche bis in die unteren Stockwerke geschafft, haben bisher schon
Verzweiflung und Leid erfahren und nun stürzt auch noch das Gebäude zusammen!
Für die meisten wohl ein schneller erlösender Tod, so makaber und unmöglich das
auch klingen mag. Doch für einige fängt der Horror jetzt womöglich erst richtig an, sie
überleben in Hohlräumen. Totale Dunkelheit, unheimliche Geräusche... Ich
kann es mir nicht vorstellen, konnte mir schon nicht erklären, wie Georg
Heinzl etliche Tage in zig Metern Tiefe das Grubenunglück von Lassing
überstanden hatte. Vielleicht hört man rettende Hilfe, kann sich aber nicht bemerkbar machen?
Angenommen ich würde es körperlich überleben weil ich Wasser
hätte, ginge meine Psyche kaputt, ich würde schlichtweg verrückt werden. Ich
glaub die Dunkelheit wär in meinem Fall weniger das Problem, denn da ich selbst
sehbehindert bin und viele blinde Menschen kenne, kann ich mit vorübergehender
Blindheit wohl am ehesten umgehen. Doch diese unendliche Stille, sollte ich die
Suchtrupps nicht hören, dass ich Mutterseelen allein bin und keine Ahnung habe,
ob und wann ich da rauskäme, ich würde halluzinieren, überschnappen…
Und ich saß da vor dem Fernsehapparat und weinte vor Betroffenheit, Fassungslosigkeit und Bestürzung, während mir die Geschehnisse und die vorher erwähnten Gedanken in sekundenschnelle durch den Kopf jagten. Das World Trade Center gab es nicht mehr, nun gut, die Gebäude sind ersetzbar. Doch das Leid so vieler Menschen, welches dieser grausame Anschlag mit sich brachte, ist nie wieder gut zu machen. Viele sprangen aus Verzweiflung in den Tod, starben lieber schneller und schmerzloser, als langsam und qualvoll. Doch was muss vorher in so einem Menschen vorgehen? Kann man in so einem Akt der Verzweiflung und der Aussichtslosigkeit überhaupt noch etwas denken? Und was geht den Angehörigen durch den Kopf? „Kommt der geliebte Parnter jemals wieder heim? Man hat keine Ahnung, hat er überhaupt überlebt? Liegt er unter den Trümmern und kämpft? Wie lange muss er leiden, ehe er womöglich erst recht sterben muss?“ Oh grausam, ich fand keine Ruhe, weder den restlichen Tag noch die Nacht. Immer wieder sah ich die Geschehnisse vor mir, dachte an die Menschen in den Türmen, an die Angehörigen…
Seit Papa so plötzlich und unerwartet gestorben ist weiß ich was es heißt, in ersten Schock die Tatsache erst mal gar nicht realisieren zu können. Man glaubt, jeden Augenblick geht die Tür auf und er kommt wie alle Tage heim. Bis man endlich kapiert, es wird nie wieder so sein wie früher, braucht man lange Zeit der Verarbeitung. Besteht jedoch eine leise Hoffnung, er könnte vielleicht noch leben, habe ich keine Ahnung, ob ich ohne psychologische Hilfe mit so einer Situation, in der ich nur zwischen bangen und hoffen warten kann, fertig werden würde.
Vielleicht denken sich manche Leser: Ach was, Amerika ist doch so weit weg. World Trade Center, na ja war für die ein Wahrzeichen, steht halt nicht mehr. Menschen sterben tagtäglich und überall, egal ob nun durch Kriege, Naturkatastrophen, Unfälle etc. das berührt manche kaum noch. Freilich kann man es so auch sehen, ist vielleicht sogar einfacher im Leben zurecht zu kommen, doch ich kann nicht aus meiner Haut. Ich bin allgemein impulsiver, erlebe mit all meinen Sinnen und Geschehnisse jedweder Art gehen mir tief ins Herz, in die Seele und unter die Haut - manchmal zu sehr. Der Preis dafür ist ab und an hoch, wie eben am Tag des 11. September 2001. Wohl nie werde ich die reinrasenden Flugzeuge, die brennenden Türme, die schreienden Menschen, den vielen Rauch und schließlich den Einsturz beider Tower vergessen.
Im Hinterkopf kreisen wohl noch lange meine Gedanken um die Toten, Verschütteten und Angehörigen, die mir in diesen Tagen besonders leid tun. Leise Angst kommt noch hinzu, denn was wird nun geschehen? Amerika schwört Vergeltung, wie artet das aus – womöglich in Krieg? Okay, wenn die Schuld der Attentäter wirklich eindeutig geklärt ist, dass man die zur Strecke bringt, dafür bin ich auch. Doch dazu müsste man die Hintermänner, die Drahtzieher, die Ausbildner von solchen Selbstmordkommandos erwischen. Ich vergleiche das mit Drogendealern. Die Süchtigen schnappt man, sperrt sie ein, bloß weg von der Bildfläche, die Dealer – also die eigentlich Hauptschuldigen und Verursacher – kommen wie meistens ungeschoren davon und machen mit stetig wachsenden finanziellen Mitteln und sich ins Fäustchen lachend weiter. Zu sagen, ich greife das ganze Volk an, das den Drahtziehern Unterschlupf gewährt, ist keine Lösung. Gleiches mit Gleichem vergelten und Tausende Unschuldige töten hat’s noch nie gebracht. Den Menschen des World Trade Center hilft es nicht mehr, es kann durch unüberlegte Racheakte nur noch größerer Schaden an der Zivilbevölkerung angerichtet werden, der sich womöglich in Wellen ausdehnt und auf den gesamten Erdball übergreift. Darum genieße ich jeden Tag, den ich gesund erleben darf, denn wer weiß, vielleicht war es der letzte.
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Erstellt am 21. September 2001
Letztes Update 17. März 2006
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