Nie vergess ich Liliom und Julie in Heilbronn

Von verschiedenen Theaterstücken erzählte mir meine langjährige Freundin Petra Raissakis schon seit Jahren immer wieder in Tonbriefen oder Mails. Ihre begeisterten Schilderungen interessierten mich deshalb, weil ich sie sehr mag und an ihrem Leben als Freundin teilhaben wollte, so gut das auf die Entfernung möglich war. Als sie mir von Percy Brauch erzählte, mit dem sie seit einiger Zeit im Mailkontakt war, schaute ich mir erstmals die Homepage eines Schauspielers an. Mich reizte, einem Künstler zu mailen und ich war freudig-stolz, als er prompt antwortete. So entstand auch zwischen uns ein Mailaustausch und Percy war der erste, der mir wichtige HTML-Tipps für meine eigene Website gab. Petra schwärmte schon länger vom Theaterstück Liliom, der vom Hauptdarsteller Percy Brauch im Heilbronner Stadttheater dargestellt wurde. Sie wollte diese Inszenierung so gerne einmal „sehen“ und wurde immer trauriger, weil die Derniere näher rückte. Hauptsächlich um ihr eine Freude zu machen entschloss ich mich, sie nach Deutschland zu begleiten. Percy Brauch kennen zu lernen interessierte mich wohl auch, aber deshalb oder wegen Liliom wäre ich von mir aus wohl nicht so weit gefahren.

Die Zugreise überraschte uns zwar mit kleinen Hindernissen, doch wir ließen uns davon nicht irritieren. Auch nicht, als ich in Heilbronn beim Aussteigen beinahe die Erde küsste, weil ich fast aus dem Zug gefallen statt gestiegen bin. Zum Andenken trug ich einen farbigen großen Bluterguss am rechten Oberschenkel davon. Außerhalb des Bahnhofes erwartete uns eine Großbaustelle, doch schließlich fanden wir Taxi und Hotel, das uns Percy wegen der Theaternähe empfohlen hatte. Im Zimmer angelangt stieg Petras Vorfreude noch mehr und sie steckte mich an, obwohl ich eigentlich nicht so genau wusste, worauf ich mich freuen sollte. Ein Theaterstück konnte doch unmöglich so packend oder spannend sein wie ein guter Film im Kino oder Fernsehen. Was konnten ein paar Leute darauf, die zwei Stunden sprachen rüberbringen? Ich konnte mir das nicht vorstellen, würde mich einfach überraschen lassen. Hauptsache ich machte Petra eine große Freude, das war mir das wichtigste. Am Theater Heilbronn angekommen fand ich erst nach längerem Suchen den Eingang, der durch die vielen Glaskonstruktionen für mich schwer als solcher zu erkennen war.

Foto vom Heilbronner Stadttheater

In der Eingangshalle brachten mich schwer zu sehende Stufen beinahe erneut zu Fall, doch Petra passte mit ihrem Blindenstock sehr gut auch auf mich auf. Getönte Scheiben, matte Beleuchtung und der dunkle grob strukturierte Boden waren nicht gerade sehbehindertenfreundlich. Ob ältere Menschen mit Sehbeeinträchtigung da auch Probleme hatten? Die Garderobe erwies sich mit vielen Spiegeln und der Neonbeleuchtung als auch nicht gerade gut zu sehen, doch der einfarbige Teppichboden erleichterte dies. Schließlich fanden wir die Türe zum Parkett, die ein paar Minuten darauf geöffnet wurde. Ich staunte nicht schlecht, den Raum hatte ich mir nie so groß vorgestellt. Die prunkvolle Deckenbeleuchtung war zwar auch hier nicht hell, wirkte aber romantisch. Die Stufen zur 1. Reihe waren gut zu erkennen, dafür die Sitznummer nicht. Ich bewunderte Petra, die das greifen konnte und wir lachten über unser Teamwork. Ich fands total schön, jeder passte auf den anderen auf seine Weise auf. Die Bühne war zum Greifen nah vor uns und auch weitaus größer als in meiner Vorstellung. Sie roch nach Lehm/Erde und was verbarg sich hinter dem schwarzen Vorhang? Aufregung erfasste mich, es war Alles so viel schöner. Nach dem melodiösen Gong füllte sich der Saal binnen kurzer Zeit mit Zuschauern, er wurde fast voll. Als das Licht ausging, war es für eine Weile stockdunkel und ganz still. Meine Spannung und Neugierde stieg, was würde jetzt wohl kommen? Da ging der Vorhang auf und zwei junge Freuen traten dicht vor uns, als sie aus dem Ringelspiel herausliefen. Sie standen so nah, ich konnte sogar ihre Augen sehen, ihren Atem hören, ihre Nähe spüren. Von diesem Augenblick an registrierte ich weder Zeit noch Raum, verschmolz mit dem Geschehen. Als Percy auf die Bühne trat, hielt ich mich vor innerer Anspannung an der Sessellehne fest, sodass Petra und ich Arm an Arm Informationen austauschen konnten. Ich sah sofort an seinem Blick, er hatte uns gesehen und nun war auch der letzte Zweifel in mir ausgeräumt. Er freute sich wirklich, dass wir wegen ihm und Liliom hierher kamen. Alleine wie er den Liliom spielte, wie seine Freundin Karen Schweim die Julie darstellte, einfach die ganze Handlung ließen mein Herz klopfen und manchmal lief mir direkt vor Aufregung ein Schauer über den Rücken. Daneben hätte die Welt untergehen können, ich hätte es nicht bemerkt. Wie fesselnd waren das Bühnenbild und die Szene als Liliom nach seinem Selbstmord vor der Himmelspolizei stand.

Foto von Liliom im Himmel Dieses Bild stammt aus der Homepage von Percy Brauch

Dichter rosafarbener Nebel hüllte den Bühnenboden ein. Wir rochen die Feuchtigkeit, als er in unsere Richtung strömte. Diese Eindrücke berührten mich so sehr, dass ich das Gefühl hatte, im hellen Farbenmeer einzutauchen, in welchem Liliom stand. So stelle ich mir wirklich den Himmel vor, in dem ich einst Papa wieder sehen werde.

Nach dem Stück brauchte ich eine Weile, um wieder in die Gegenwart zurück zu finden. Der Weg ins Theaterbistro, wo Percy uns treffen wollte, erfüllte Petra und mich mit erneuter Aufregung. Wie er wohl außerhalb der Maske aussehen mochte? Ich hätte ihn weder stimmlich noch optisch erkannt, genauso wenig Karen, die mitgekommen und seine Freundin war. Ich nahm an, die beiden Künstler würden uns halt ein paar Minuten widmen, quasi eine Verpflichtung wahrnehmen, die sie glaubten uns Weithergereisten gegenüber zu haben. Doch nach einem ersten vorsichtigen Kennen lernen folgte eine interessante Unterhaltung, die erst durch die Sperrstunde abgebrochen wurde und am kommenden Abend fortgesetzt werden sollte.

Foto von Karen, Percy und Petra

Doch dazwischen waren ein par Stunden Schlaf und der nächste Tag. Unser Vorhaben, durch die Fußgängerzone zu schlendern, ein bisschen von Heilbronn zu sehen und Ansichtskarten zu kaufen, war uns nicht wohl gesonnen. Petra drückten ihre neuen Schuhe, mir tat der Fuß vom Sturz ein wenig weh. Ganz Heilbronn präsentierte sich als Baustelle und alles andere, nur nicht Ansichtskarten waren aufzutreiben. Etwas frustriert und geschafft beschlossen wir, den restlichen heißen Nachmittag im Hotelzimmer zu verschlafen. Doch die Vorfreude aufs nochmalige Liliom und den anschließenden Abend war so groß, dass wir unaufhörlich redeten und schon standen wir wieder vor dem Eingang zum Parkett. Dank sehr entgegenkommenden Personals und wirklich netter Theaterbesucher konnten wir erneut in der 1. Reihe sitzen. Diesmal erlebte ich das Stück mit all seinen Bühnenbildern noch viel intensiver, und genoss jede Einzelheit direkt ehrfürchtig. Das heutige Publikum war mitreißend, was auch die Schauspieler zu Höchstleistungen anspornte. Als sich Liliom das Gesicht wusch, spritzte er uns spaßhalber mit Wasser an, Petra und ich lachten über diese liebe Geste. Der Nebel hüllte uns diesmal noch mehr ein, es war einfach „himmlisch“. Als diesmal der Vorhang fiel, blieben Petra und ich im beginnenden Abschiedsschmerz noch eine Weile dicht vor der Bühne stehen, die wir berührten. Wir sprachen kein Wort, so sehr waren wir mit unseren Eindrücken und Gefühlen beschäftigt, die wir in uns aufnahmen, ohne den anderen zu stören. Schließlich lachten wir uns  über unsere Traurigkeit aufmunternd zu, immerhin trafen wir ja noch Percy und Karen. Es wurde ein wirklich netter und fröhlicher Abend. Wir wurden Freunde und gingen nach Sperrstunde noch in ein Lokal. Das Du war vorprogrammiert und der Abschied für uns alle schmerzlich, aber besonders für Petra und mich. Percy und Karen waren so unkompliziert und spontan und für uns Vier waren das ereignisreiche und eindrucksvolle Tage.

Foto von Percy, Petra und mir

Während der letzten Stunden Zugfahrt, die Petra und ich getrennt weiterfuhren, hatte ich etwas Zeit, um noch mal über die letzten drei Tage nachzudenken. Keine meiner Befürchtungen war eingetroffen, Alles war so ganz anders gekommen. Nie kann ein Film egal wie und wo, so packend, so hautnah und so innig sein, wie eine wirkliche Meisterleistung von Schauspielern auf der Bühne. Im Theater kann man mit allen Sinnen genießen, man sieht die Schauspieler dicht vor sich, hört ihre Stimmen aus verschiedenen Richtungen, nimmt unterschiedliche Gerüche wahr und glaubt, mitten im Geschehen involviert zu sein. Nichts anderes nimmt man während des Stücks wahr, als wäre man ganz allein mit seinen aufgewühlten Emotionen. Ein unvergesslich schönes Erlebnis und eine völlig neue Erfahrung, die ich da machen durfte und eines wissen Petra und ich genau: Sollten Percy und Karen wieder einmal gemeinsam in einem Stück vertreten sein, sind wir die ersten, die es magnetisch nach Heilbronn zieht.


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Letztes Update 16. Juni 2001
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